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Band 1 |
Zu Ittmanns Werken
Heinrich Balz
Peter Anhalt
A. M. Selignow
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Anhang
A. M. Selignow

Inhalt Kapitel 3

3. Auf dem Weg zum „Geistigen Volksbesitz …“Ittmann und die deutsche missionstheologische Debatte 1909–1940

3. Auf dem Weg zum „Geistigen Volksbesitz …“Ittmann und die deutsche missionstheologische Debatte 1909–1940

In diesem Kapitel geht es darum, Ittmann in die missionstheologische Diskussion seiner Zeit einzuorden. Heinrich Balz stellt in seinem Aufsatz 1993a (261–265) die These auf, daß Ittmann sich zunächst, also in den 20er und der ersten Hälfte der 30er Jahre, an Gutmanns „volksorganischer Methode“ orientiert habe. Das wird deutlich am Titel des Aufsatzes 1936a „Urtümliche Bindungen und Volksordnungen im vorderen Kamerun“. Das Stichwort „Urtümliche Bindungen“ zieht sich durch viele Texte der damaligen Missionsliteratur in Gutmanns Gefolge31. Im weiteren Verlauf wandere Ittmann zu Ernst Johanssen weiter (siehe mein 2. Kapitel), weil er es erstens in Kamerun mit einer komplexeren, widersprüchlicheren Sozialstruktur zu tun hatte und zweitens für Ittmann der „soziale Sündenfall […] nicht nur modern und westlich“ sei, d.h. nicht erst mit der westlichen Zivilisation über die Afrikaner hereingebrochen sei (Balz1993a, 263f). Mit seinem Vortrag über die Kameruner Gottesvorstellungen von 1939 (gekürzt 1940, ungekürzt 1955 gedruckt) finde Ittmann sein eigenes Leitmotiv, sein theologisches Profil (255).

Daraus ergibt sich meine Kapitel-Gliederung:

3.1 und 3.2 über die deutsche missionstheologische Debatte;

3.3 über Gutmann;

3.4 über Johanssen;

3.5 und 3.6 über Ittmanns Wanderung von einem zum anderen;

3.7 über Ittmanns eigenes Profil in der Gottesvorstellung.

3.1 Eingrenzende Vorbemerkungen:

1) Relevant ist für mein Thema nur die protestantische Debatte. Die katholische Mission wurde internationaler, also nicht spezifisch deutsch, diskutiert und von protestantischer Seite als Konkurrenz gesehen32, entsprechend nicht weiter zur Kenntnis genommen, von seltenen Ausnahmen abgesehen.

2) Die deutsche Missionstheologie der ersten Hälfte des 20. Jh., aber auch schon der zweiten Hälfte des 19. Jh. sah sich besonders begabt, auf das Volkstum anderer Völker angemessen einzugehen33. Sie hielt auch nicht allzuviele internationale Kontakte, ging eher ihre eigenen Wege. Auch nach der Weltmissionskonferenz 1910 pflegte sie eher begrenzte Kontakte zur internationalen Diskussion34, nicht zuletzt infolge des Ersten Weltkrieges und des sich daraus ergebenden Verlustes der Kolonien und des Missionsverbotes bis 1925 sowie der nationalen Alleingänge der 30er Jahre35. Bei Ittmann deutet nichts darauf hin, daß er sich mit ausländischer Literatur weitergehend beschäftigt hätte.

3) Zwei Buchtitel markieren eine Spaltung in der deutschen Debatte: Paul Schütz’ Zwischen Nil und Kaukasus (1930) und Siegfried Knaks Antwort Zwischen Nil und Tafelbai (1931). Der dialektische Theologe Schütz besichtigt die äußerst geringen Missionserfolge in islamischen Ländern (also in Schrift-Kulturen!) und leitet unter anderem daraus Passion als zeitgemäßes Paradigma der Mission ab (245). Ähnlich desorientiert zeigen sich die ostasiatischen Missionen (Witte 1914, bes. 194ff und 1936). Entschieden gegen Schütz wendet sich Knak (1931), indem er auf die „Erfolge“ der Mission in Afrika (schriftlose Kulturen!) verweist, wo in der Tat – bis heute – Kirche kontinuierlich wächst. In diesem recht aktiven Feld tauchte nun die Frage auf, wie eine den afrikanischen Christen gerechte Kirche auszusehen habe.

4) Daher hatten Ittmann und seine Kollegen in Afrika sich vorwiegend mit der praktischen Missionsmethode für schriftlose Kulturen zu beschäftigen, nicht so sehr mit einer umfassenden Missionstheologie. Für diese Eingrenzungen finden wir eine passende Darstellung:

3.2 Die deutsche missionstheologische Debatte (Hoekendijk 1967)

J.C. Hoekendijk berichtet in seiner Dissertation von 1948 (Übersetzung 1967)36 ausführlich darüber, wie das „Volkstum“ in die deutsche missionstheologische Debatte geriet. Er beginnt mit der Darstellung des „Missionsjahrhunderts“, des „Great Century“37, dem 19. Jahrhundert (17ff). Nachdem im 18. Jh. durch Gründung einiger Missionsgesellschaften Kreise des deutschen Pietismus weltmissionarisch aktiv geworden waren, konnte im Jahre 1800 die erste deutsche Vorlesung über Mission in Tübingen gehalten werden (25). Das ganze 19. Jh. der Mission war zunächst von der pietistischen Einzelbekehrung und der Schaffung von eccesiolae geprägt, die auf die Herrnhuter Mission, also Zinzendorf zurückgingen (46). Doch schon Zinzendorfs Nachfolger Spangenberg sah sich aufgrund des unerwarteten Missionserfolges (53) gezwungen, sich mit den sozialen Strukturen der Bekehrten und ihrer Umgebung zu beschäftigen. In der weiteren Entwicklung (z.B. Fabri, Mitte 19. Jh.) blieb die Theorie zunächst bei der Einzelbekehrung, durch die rasch aufsteigende europäische Kulturexpansion geriet jedoch mehr und mehr eine Völker-Christianisierung ins Blickfeld.

Die Mitte des 19. Jh brachte vor allem eine Verkirchlichung (Konfessionalisierung) der Mission, die von den Missionsleuten zwar zunächst skeptisch betrachtet, dann aber doch vorangetrieben wurde, da sie die Mission aus ihrem pietistischen Winkel holte und ihr allgemeinere Anerkennung brachte. Mit dieser Konfessionalisierung erfolgte eine Lutherisierung weiter Kreise der deutschen Mission, vor allem durch Karl Graul, Ludwig Harms und Wilhelm Löhe vertreten. Sie wollten Volkskirchen mehr oder weniger nach lutherischem Muster schaffen (67–77). Bei ihnen finden sich „verräterische“ Vokabeln, die zeigen, daß nicht nur bei Luther gelernt wurde, sondern auch bei der deutschen Romantik: Eigentümlichkeit, Volksgeist, Organismus (79). Individualismus wird durch Völkerindividualismus ersetzt; die eschatologische Ausrichtung von Zinzendorf und Bengel geht verloren bzw. wird transformiert angesichts der geschichtlichen Umbrüche zur Mitte des 19. Jahrhunderts – die Zeit des Endes ist da und damit auch die Einbeziehung der Völker, Universalismus statt pietistischen Partikularismus’ war angesagt. Der zunehmende Weltverkehr vor allem ab 1866 (norddeutsche „Einigung“) und die deutsche Beteiligung am Kolonialismus (1884/85) lenkte den Blick auf die ganze Welt, die ganze Menschheit. Dies fand auch Ausdruck in der Gründung des (liberalen) Allgemeinen Evangelisch-Protestantischen Missionsvereins, der sich um die weltweite Ausbreitung christlicher Religion und Kultur (39f), also u.a. um die religiössittliche Erhebung der „Wilden“ sorgte. Gott bediene sich beider Mittel zur Ausbreitung des Glaubens: Kolonialismus und Mission. Die Mission diente zudem der „Befriedung“ der Kolonisierten (40). Damit war sie ein Unternehmen im nationalen Interesse.

Gustav Warneck (1834–1910) schließlich versuchte in seiner großen Missionslehre (1892–1903) – lange Zeit das Standardwerk zur Missionstheologie –, Einzelbekehrung und Völkerchristianisierung zusammenzubringen, freilich um den Preis fragwürdiger exegetischer Kunstgriffe (88f): die pavnta ta; e[qnh] aus Mt 28, 19 werden als einzelne Völker statt als Gesamtmasse der „Heiden“ gedeutet38. Dem Volk, der Volkskirche galt das Interesse der Mission, also – nach Hoekendijk – dem „Natürlichen“, dem Vorfindlichen. Die Geschichte hatte ihr heiliges Recht (87). Dabei erfaßte auch nationales Pathos die Missionare: Selbstverständlich pflege der deutsche Missionar überall auf der Welt zu Recht seinen Patriotismus (40)39.

Hoekendijk faßt deutend zusammen: Die Mission rückte „von ihrem biblisch legitimen Platz im dritten Artikel in den ersten Artikel“ (110) – von Ekklesiologie, Eschatologie, Pneumatologie zur Schöpfung Gottes.

Zu Beginn des 20. Jh. fanden sich die deutschen Missionen in einer völlig veränderten Lage wieder. Die Behinderungen während und nach dem Ersten Weltkrieg, die wirtschaftliche Depression der 20er Jahre, der Säkularismus, der Kommunismus, das Aufbrausen der deutsch-nationalen Bewegung der 30er Jahre trieben als äußere Umstände die Missionen in die Defensive. Auf dem Feld erstarkten die Unabhängigkeitsbewegungen und damit zusammenhängend die alten Religionen (s.o. S. 28, Anm. 58). Die Weißen verloren an Prestige, als sich die negative Seite der „Zivilisation“, die gesellschaftliche Desintegration deutlich zeigte (111–129). Von Seiten der Theologie, besonders der dialektischen, empfing die Mission ebenfalls nicht viel Unterstützung: Paul Schütz wurde schon erwähnt; Barth macht die Theologie in seinem Vortrag von 1932 (120f) cum grano salis zur Kontrollbehörde der Mission, läßt sich den Engel Jahwes sein, der den Jakob am Jabbok (Gn 32) zwar lähmt, sich über den zu erteilenden Segen aber eher bedeckt hält40.

Die bei Hoekendijk (1967) dargestellten Missionstheologien lassen sich grob so unterscheiden: Eine Linie steht in starkem Dialog mit der dialektischen Theologie, so Walter Freytag und Karl Hartenstein. Beide gehen von der wesenhaften Fremdheit der Gemeinde in einem Volkskörper aus. Die Gemeinde wird sich erst in zweiter oder in späteren Generationen von selbst zu einer Volkskirche mit ihren Eigentümlichkeiten entwickeln und dann auch positiv auf das Volk Einfluß nehmen.

Die zweite Linie, vertreten besonders von Christian Keysser und Bruno Gutmann, geht stark auf die vorhandenen Sitten im Volk ein. Sie versucht, das Volk nicht zu beschädigen und die Kirche von vornherein eng an das Volk zu binden. Keysser hat seine „volkspädagogische“ Missionsmethode in Neu-Guinea entwickelt. Extrem verkürzt dargestellt: Da es dem Einzelnen in einer face-to-face-Gesellschaft41 nicht möglich ist, ohne nahezu vollständigen Verlust seiner sozialen Bezüge zum Christentum überzutreten, muß der ganze Stamm, das „Volk“ langsam erzogen werden, mehr und mehr den christlichen Glauben und entsprechende Volksordnungen anzunehmen. Der Religionswechsel ist in Afrika einfacher, weil die Gesellschaften auch durch zahlreiche Kontakte untereinander schon differenzierter sind42. Deshalb und aufgrund seines späteren Überwechselns zu den Deutschchristen ist Keysser für meine Untersuchung nicht weiter relevant. Viel wichtiger für Afrika und damit auch für Ittmann ist die „volksorganische“ Methode Bruno Gutmanns, die ich im nächsten Abschnitt darstelle.

3.3 Bruno Gutmanns volksorganische Methode43

Bruno Gutmann (1876–1966) wurde im Seminar der lutherischen44 Leipziger Mission ausgebildet, kam in Leipzig auch mit Wilhelm Wundt und seiner Völkerpsychologie in Berührung (s.o. S. 20 Anm. 43). Er arbeitete dann 1902–1920 und 1926–1938 bei den Chagga im heutigen Nord-Tansania.

Karl Barth liest die „wahrlich geistreiche Gutmannsche Literatur“ als Variation des „nur zu lieblichen Gesangs der alten Schlange: Gratia non tollit sed supponit et perficit naturam.“ (1932, 122). Das ist zwar bündig zusammengefaßt, erklärt aber nicht unbedingt, warum Gutmann der bedeutendste deutsche Missionsmethodiker wurde.

Gutmann erforschte zunächst „seinen“ Stamm, die Chagga, und legte sie 1909 in seinem ersten eigenen Buch nieder, dem „Dichten und Denken der Dschagga-Neger“. Er zeichnet Sozialstruktur und vor allem Religion der Chagga gründlich auf, um dann im Schlußkapitel diese beiden als Praeparatio evangelica zu deuten. Dabei geht es ihm noch in erster Linie um Anknüpfungspunkte, Gleichnisse für die Predigt45. Von der literarischen Gattung her entspricht dieses Buch weitgehend den in Kapitel 2 besprochenen Büchern von Johanssen (1931) und Ittmann (GVK).

Der nächste wichtige Baustein Gutmanns ist seine Zivilisationskritik. Der westliche Mensch fröne dem Individualismus, nur Leistung zähle, Geld werde zum Symbol der Zeit. Der Mensch an sich sei nichts mehr wert. Anders in traditionellen Gesellschaften. Dort sei der Mensch mit anderen gliedhaft verbunden durch die „urtümlichen Bindungen“46 Blut (Familie), Boden (Nachbarschaft) und Alter (Altersklasse). Diese Bindungen sind eben urtümlich, d.h. von Gott geschaffen und deshalb zu erhalten.

Doch nicht nur im Volk sollen sie erhalten bleiben, auch die Gemeinde soll durch sie aufgebaut werden. Diese Bindungen schaffen nämlich Gemeinschaft, machen daher auch das Christentum anziehend, weil eine Kirche, die auf sie aufbaut, die in den Missionskirchen fast zwangsläufige Individualisierung und Isolierung vermeidet. Wenn urtümliche Bindungen, d.h. ihre Entsprechungen, in der Gemeinde wirksam sind, erneuern sie auch das Volk.

Hier tritt Gutmann nun als kreativer, äußerst produktiver „Gemeinde-Pädagoge“ hervor. Er christianisierte das Brautexamen der Chagga, integrierte traditionelle Tänze in das Gemeindeleben, band die Konfirmierten zu Altersklassen zusammen, die sich gewissermaßen gegenseitig Paten und Seelsorger waren, dichtete Kirchenlieder auf Chagga-Melodien u.v.a.m.

Eingegangen auf die einheimische Kultur sind Missionen auch schon früher, beispielsweise die Basler Mission mit ihrer konservativen Sprachenpolitik47. Neu an Gutmann ist, daß er erstens durch gründliche ethnologische Arbeit den Blick auf die tatsächlichen Verhältnise lenkt48, zweitens„urtümliche Bindungen“ direkt für die Gemeinde nutzbar macht und daß er drittens aus diesen seinen Erfahrungen Konsequenzen für die heimatliche Kirche ableitet: „Gemeindeaufbau aus dem Evangelium. Grundsätzliches für Mission und Heimatkirche“ (1925). Diese Hinwendung zur Heimatkirche und sein umfangreiches, kreatives Werk sind neben der Verbreitung durch Knak (1931, 143–174) und seinem romantischen Konservativismus wohl die Hauptgründe für seine damalige Popularität.

Klaus Fiedler läßt seine Studie über „Konservative deutsche Missionare in Tanzania“ (1983) mit Gutmann beginnen. Gutmann versuchte, Kultur zu konservieren, Altes wiederzubeleben, notfalls auch gegen den meist stillschweigend-passiven Widerstand der Einheimischen49. Dies tat er wohl aus einer romantischen Grundhaltung heraus, in der Hoekendijk (1967, 11) und Fiedler den Grund sehen für den Konservativismus in der deutschen Mission und vor allem für die Hingabe an den Gedanken des zu bewahrenden „Volkes“. Dieser Romantizismus hat viele Christen (durch ihren Vergangenheitsbezug chronisch anfällig) und eben auch Missionare, die die Veränderungen der Gesellschaft nach dem ersten Weltkrieg nicht anders als mit kultureller Regression zu beantworten wußten, scharenweise der nationalen Bewegung, dem NS in die Arme getrieben, bei der sie glaubten, ihre Anliegen wiederzufinden50.

Wenn man Gutmann nun nach seiner Botschaft, nach dem Evangelium und seinen Verbindungen zum Volkstum befragt, findet man gewissermaßen Entsprechungen zu den wichtigsten „urtümlichen Bindungen“ Blut, Boden, Altersklasse. Kindschaft ist die Summe des Evangeliums. Sein wie die Kinder ist Bedingung für das Eingehen ins Reich Gottes (Mt 18,3)51. Das Reich Gottes ist mitten unter den Menschen (L 17, 21), also in zwischenmenschlichen Beziehungen, „zwischen denen, die einander Nächste sind.“52 Diese Hingabe an das Geschaffene, Menschliche, die Nebenrolle der Christologie53 und die Abwesenheit von Pneumatologie und Eschatologie müssen nicht nur dem Dialektiker Hoekendijk problematisch erscheinen54. Das Evangelium ist Erfüllung des Volkstums, auch Erfüllung der afrikanischen Religionen, an deren gleichsam deistischen Hochgott sich mit christlicher Verkündigung nach Art der Areopagrede (Act 17, 23ff) gut anknüpfen läßt. Geisterkulte, Hexerei und dergleichen sind mit der Sünde nebenher hereingekommen, das Volkstum braucht also bloß gereinigt zu werden, kann dann Grundlage für Volkskirche und gesunde Entwicklung des Volkes sein.

3.4 Ernst Johanssen55

Ernst Johanssen (1864–1934) wuchs lutherisch auf, studierte Theologie und Religionswissenschaft und arbeitete 1891–1929 für die Bethel-Mission in Tansania und Ruanda, teilweise als Feld-Leiter. Er machte dabei ähnliche Entdeckungen wie Gutmann, auf den er häufig verweist; er geht aber über ihn hinaus in eine progressivere Richtung.

Eine kompaktere Verhältnisbestimmung von Evangelium und Volkstum hat er 1933 in einem Vortrag niedergelegt. Er richtet sich gegen den Vorwurf von Ludendorffs Tannenbergbund56, daß das Evangelium das deutsche Volkstum verderbe. Das Gegenteil sei der Fall, so Johanssen, durch das Evangelium werde das Volkstum von der Sünde infolge der Abwendung von wahrer Gotteserkenntnis (R 1, 21ff) gereinigt. Als Beleg führt er seine Erfahrungen mit afrikanischem Volkstum in der Auseinandersetzung mit dem Evangelium an. Ohne wahre Gotteserkenntnis verfalle ein Volk und gebe sich Dämonenkulten hin. Das Evangelium bringt nun Sündenerkenntnis, daher Versöhnung mit Gott, bindet den Menschen an Gott und „zugleich auch an den Mitmenschen, entsprechend all den urtümlichen Bindungen, in die er schöpfungsmäßig gestellt ist.“ (1932, 136). Aufgabe des Missionars ist nur, Jesus Christus so zu verkündigen, daß auch die Heiden ihn als Herrn anrufen“ (137). Deshalb studiert der Missionar gründlichst die Sprache und das Volkstum, um insofern dem Afrikaner ein Afrikaner zu werden.

Afrikanisches Volkstum ist Gottesschöpfung, da es Moral und sinnvolle urtümliche Bindungen wie Ehe und Familie enthält – hier kommt gleichsam R 2, bes. V. 14 (Gewissen) ins Spiel. Hinter der afrikanischen Religion und Moral stehe Glaube als Klammer. Da aber Gott, obwohl gekannt, nicht verehrt wird, ist nach R 1 auch das afrikanische Volkstum dem Verfall preisgegeben, der durch das Zusammentreffen mit der westlichen Zivilisation beschleunigt wird. Die Zivilisation hat bei Johanssen anders als bei Gutmann eine zweideutige Funktion: Neben einer Menge Verdorbenem enthält sie auch Gutes, sie beseitigt z.B. auch den alten Geisterglauben. Damit die Afrikaner nun nicht zugrunde gehen, weil die religiöse Klammer ihrer Moral, der Geisterglaube, weggebrochen ist, brauchen sie eine neue Religion, die ihnen die Gotteskraft des Evangeliums gibt. Und das Evangelium bringt sogar noch Bereicherungen für das Volkstum, z.B. in der Sprache und in der ehelichen Liebe.

Der Unterschied zu Gutmann liegt in der gleichsam größeren Distanz des aktuell bestehenden Volkstums zum ursprünglichen, von Gott geschaffenen. Die Afrikaner sind nicht in erster Linie durch die westliche Zivilisation verdorben, sondern haben auch selbst die Erkenntnis des wahren Gottes verkehrt und die Folgen von R 1, 21ff, bes. 29ff zu spüren bekommen. Johanssen unterschied Volkstum und Heidentum, letzteres sollte verschwinden (Trittelvitz 1934, 184). Die (vom Heidentum mit geprägten) Volksordnungen müssen nicht um jeden Preis erhalten werden und für die Gemeinde nutzbar gemacht werden, sondern ganz Urtümliches wie die Ethik der zehn Gebote muß neu zur Geltung gebracht werden57.

In diesem Rahmen wird auch sein Werk von 1931 verständlicher, das ich in Kapitel 2 praktisch mit vorgestellt habe58. Im Schlußkapitel (1931, 260–263) zeigt er sozusagen Erkenntnislücken im Weltbild seiner Afrikaner auf, die mit den Antworten des Evangeliums zu füllen sind. Diese Lücken, aber auch das Unverdorbene, das weiterverwendbare Volkstum (Moral, menschliche Gemeinschaft) sind Ausdruck der Tatsache, das Gott sich den Afrikanern nicht unbezeugt gelassen hat. Auch weil sie nachweislich nicht „prälogisch“, sondern wie Europäer zu denken pflegen, sind sie bereit zur Aufnahme des Zeugnisses von Jesus Christus als Samenkorn in einem fruchtbaren Acker. Sein Verständnis von Anknüpfung des Evangeliums an das Volkstum legt den Akzent folglich stärker auf die Ebene des Predigtbeispiels – also auf kognitive Aspekte – als auf die ontologische, schöpfungsmäßige Verbindung wie bei Gutmann, obwohl auch letztere nicht fehlt (1933, 143). Er ist damit näher an Act 14, 15–17, dem Nicht-unbezeugt-sein Gottes, das aber nicht weiter an den Volksorganen als Gottesschöpfung interessiert ist.

Johanssen 1931 enthält noch eine deutliche Spitze gegen Gutmann, die in der damaligen Diskussion auch als solche aufgefaßt wurde (Raum 1932,235f): Die Gliederung seines Buches beginnt zwar mit den urtümlichen Bindungen der Menschen, die z.T. Sklaverei unter ein pharisäisches Gesetz seien (198), beschäftigt sich dann aber auch deutlich mit dem Ich-Bewußtsein, der Individualität des Menschen auf immerhin 55 Seiten, d.h. gut 20% seines Buches. Das könnte man so nicht bei Gutmann finden.

3.5 Urtümliche Bindungen – Ittmann 1936a und Gutmann

Die erste Nummer des EMM 1936 beginnt mit einem Artikel Hartensteins59 über „Heidentum und Kirche“, in welchem er mit explizitem Bezug auf Barth über „das Unzeitgemäße des Evangeliums“, die „Umkehrung aller Werte“, über die Einheit der Menschheit und über das kommende Gericht mit der Neuordnung aller Dinge schreibt. Direkt im Anschluß folgt Ittmanns Artikel mit den „Urtümlichen Bindungen und Volksordnungen im vorderen Kamerun“ (1936a): Dort ist Mission „Aussaat des Evangeliums in den Boden des Volkstums“ (16). Die „kirchlichen Formen können des Volkstums nicht entraten. […] die Gemeinde selbst muß aus dem Volksboden wachsen […], angelegt sein auf die erneuerten alten Ordnungen und Formen, die es nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen gilt.“ (16) „Darum zielt die Evangeliumspredigt auch nicht auf die Schaffung neuer Formen – wir haben gesehen, daß wir die alten weithin benutzen können – , sondern auf Wegbahnung für einen neuen Geist.“ (50)

Diese wenigen Zitate beweisen die Nähe Ittmanns zu Gutmann; die Zitate Hartensteins zeigen, in welcher Situation diese Spitzensätze gesprochen sind: Eine Kampfsituation, in der die dialektische Theologie jeder „natürlichen Theologie“ ihr scharfes „Nein!“ (Barth 1934) entgegenrief und die Religionswissenschaft „dämonisierte“ (Lanczkowski 1991, 68). In solcher Kampfsituation genauestens hinzuhören, was eigentlich gesagt wird, ist ebenso schwierig wie nötig. Daß in dieser Lage fleißig aneinander vorbeigeredet wurde, konstatiert Ittmann in GVK (IV).

Für Ittmann steht zweierlei auf den „Tafeln der Heidenherzen“Gottes Werk und des Teufels Werk. An die Gottesschrift in den Herzen ist anzuknüpfen und zwar nicht nur mit der Predigt, sondern auch mit Gemeindeordnung und kirchlichen Formen (1936a, 16). Diese Gottesschrift bestehe zunächst in zwei Tatsachen: dem Gottesbewußtsein und dem Gewissen. Ittmann referiert hier über das Gottesbewußtsein der Bakwiri, die traditionell Ahnen- und Himmelsgott in eines sehen, diesen Gott ahnen, gelegentlich anrufen, aber nicht ihn verehren, sondern sich mit Totengeistern und Magie beschäftigen (18; vgl. oben S. 31–33 zu GVK 141–150). Der Missionar kann also den Heiden den Gott verkünden, dem sie unwissend Gottesdienst tun (vgl. Act 17, 23). Wahrer Gottesdienst entsteht aus der Verkündigung des Evangeliums, das die Menschen löst aus „aftergläubiger Religion“, „verderbter Volksreligion“, aus der Vergottung von Blut und Boden, Volk und Rasse bei Schwarzen, Deutschen und Juden – eine unübersehbare Spitze gegen die damaligen Verhältnisse in Deutschland, aber eben auf Ittmanns Art, nicht auf Hartensteins. „Es ist die Schuld der Heiden, von dem herrlichen Schöpfergott zu wissen und sich doch dem Geschöpf hinzugeben in heißem Bemühen.“ (19) Ittmann findet außerdem Gerechtigkeitsempfinden bei den Schwarzen, Schuldgefühle, eine moralisch gehaltvolle Sintfluterzählung u.v.a.m. (20–22).

Gottesglaube und Gewissen sind für Ittmann „urtümliche Bindungen“ aus denen Ordnungen erwachsen sind, welche die Verhältnisse zwischen den Menschen regeln. Diese sind vom Schöpfer selbst geschaffen, aber der Gemeinde nicht Gegenstand des Glaubens. Freilich sind sie unter Kameruner Verhältnissen (Wanderungen, Kulturvermischungen) nicht immer so leicht zu erkennen wie anderswo. Auch sei unter den Naturvölkern nicht „alles wahr, natürlich, unverdorben“ (23), paradiesisch, ohne Parallelen zum „Untergang des Abendlandes“.60 Auch der Kameruner habe Anteil an Adams Fall und jeder Mensch, ob Jude oder Grieche, Europäer oder Afrikaner, Heide oder nichtwiedergeborener (!) Christ, müsse durch „Buße, Bekehrung und Wiedergeburt die verschütteten Brunnen wieder öffnen, daß ihr Wasser segnend ins Leben strömt und die urtümlichen Bindungen und Ordnungen wiedergebracht werden.“ (23) – hier bricht Ittmanns Pietismus durch.

Diese Ordnungen nun sind Sippe, Ehe, Feste (Übergangsriten), Altersklassen, Boden, Ackerbestellgenossenschaften, Sprachen, Zucht. Die Kameruner Sippen leiden schon lange unter Zersetzung, sind zu respektieren, aber nicht über das Einzelwesen zu stellen, besonders nicht über das des sozial Deklassierten. Die christliche Gemeinde habe die soziale Stellung der Dämonenbünde zum Teil übernommen (Vermittlung zwischen Sippen)61, zum Teil auch Funktionen der Sippe (29). Sie stärkt das gegenseitige Verantwortungsgefühl in den Sippen (30). Hinsichtlich der Ehe beschließen die Missionare, den Brautpreis für die Gemeinde nicht abzuschaffen, da er die Frau schütze und ihre Stellung, ihre Ehre stärke62. Die Taufe habe die heidnischen Geburtsfeste abzulösen, die christliche Dorfschule die Initiationsschulen der Geheimbünde. Nächstenschaft und Alterklassen sind zu pflegen und werden durch europäischen Kalender sogar gefördert, da man Geburtsdaten nun exakt vergleichen kann. Das Kameruner Bodenrecht (vgl. o. S. 23, Anm. 51) soll durch die Kirchen gepflegt werden, denn auch der Bauernstand sei eine urtümliche Ordnung63.

Alles in allem ziele die Evangeliumspredigt also nicht auf die Schaffung neuer Formen, sondern auf die „Wegbahnung eines neuen Geistes“ (50). Es genügt aber nicht, die heidnischen Einrichtungen nur zu reinigen; einige müssen zersprengt werden, „um aus heidnischer Sippe und Stamm christliche Gemeinschaft und Kirche zu machen“ (51). Das Empfinden der Leute dürfe die Mission nicht unnötig verletzen; der „Kampf gelte nie der Form, sondern nur dem Inhalte.“ Predigt und Seelsorge suchten den Einzelnen, aber nicht für sich allein, sondern um ihn in seine Sippe als Botschafter zurückzusenden (52).

Wie verhält sich Ittmann nun hier zu Gutmann? Zunächst fällt auf, wie Ittmann darauf bedacht ist, heidnische Religiosität zu kritisieren, Gottund Teufel im Herzen der Schwarzen zu sehen und nicht nur bei den Schwarzen, sondern überall auf der Welt, auch bei seinen Landsleuten. Die Religionskritik von Römer 1 kommt voll zur Geltung; der Sündenfall ist universal. Bei Ittmann gibt es keine „guten Wilden“. Das Gewissen (R 2, 15!) kommt auch zu seinem Recht. Ittmann kann sich also mit Gottesvorstellungen und Gewissen durchaus auf Paulus berufen.

Bei weiterer Lektüre werden jedoch Spannungen sichtbar: Die „Ordnungen“ haben sich mal „entwickelt“, d.h. könnten auch anders sein, mal sind sie Gottesschöpfung (22f). Einige, etwa die Geheimbünde, müssen zerstört und durch die Kirche teilweise (!) ersetzt werden (29). Sein Pietismus (Wiedergeburt des Einzelnen, 23) ringt mit Völkerchristianisierung, Volkskirche („um aus heidnischer Sippe und Stamm christliche Gemeinde und Kirche zu machen“, 50). Von Volkskirche und Luthertum redet der Pietist Ittmann im Gegensatz zu Gutmann nie. Ittmann pflegt auch nicht Folklore (Tänze und dergleichen) wie Gutmann, nimmt Institutionen des Volkstums nicht in den Dienst der Gemeinde64. Die Gemeinde ist für ihn nicht eine Fortsetzung des Volkstums, das er schon in weitgehender Zersetzung antrifft.

Worum es Ittmann praktisch geht, wird vielleicht deutlicher aus seiner Antwort auf einen Fragebogen65 1938: In einem kleinen Dialog schildert er die erstaunliche Ignoranz eines langgedienten Missionars hinsichtlich einiger heidnischer Taburegeln, die er nicht kennt und daher das heidnisch motivierte Verhalten eines Kameruners fälschlich für einen Erweis vertieften christlichen Glaubens hält. Trotzdem wurde Ittmann von der Leitung der BM gemaßregelt, daß er junge Brüder „zu sehr über die heidnischen Verhältnisse“ aufkläre. Er plädiert schließlich dafür, daß die Missionare sich wirklich zusammensetzen, um in das Wesen der heidnischen Religion einzudringen und einen Einheit gegen diese werden. Sein praktischer Umgang mit seinem ethnologischen Wissen bezieht er auch in diesem Schreiben in erster Linie auf die Verkündigung; die von Ittmann mitverantwortete Gemeindeordnung von 1935 ist nicht sonderlich revolutionär, was ihren Umgang mit dem Heidentum angeht66.

Ittmanns Kampf gilt also zunächst der willentlichen (z.T. dialektisch-theologisch bedingten) und unwillentlichen Unkenntnis der Missionare über ihre Gesprächspartner, die sie zu deutlichen Fehlurteilen bei ihrer Arbeit führt. Die entsprechende theologische Richtung dazu findet er eher bei Gutmann als bei anderen Theologen seiner Zeit, etwa gar den dialektischen. Er übernimmt daher theologische Formulierungen, ohne jedoch in Theorie und Praxis so weit zu gehen wie Gutmann. Daß Ittmann sich theologische Formulierungen nicht selbst zutraut, habe ich in Kapitel 2 an verschiedenen Stellen gezeigt, wo er Johanssens Stellungnahmen „im Licht des Evangeliums“ praktisch komplett übernimmt.

3.6 Progression statt Rekonstruktion – Ittmann und Johanssen

Gutmann und Johanssen sind in ihren Werken durchaus unterscheidbar, wie ich oben in Kapitel 3.4. gezeigt habe, allerdings ist auch Johanssen mit Gutmannschem Vokabular durchsetzt und zeigt damit, daß er in der gleichen Spannung steht wie Ittmann. Daher erstaunt es und erstaunt auch wieder nicht, daß Ittmann 1938 keinen Widerspruch zwischen Gutmann und Johanssen, genauer zwischen seinem (Ittmanns) Artikel über urtümliche Bindungen (1936a) und dem Buch von Johanssen 1931 sieht: in seiner Antwort auf den eben angeführten Hartensteinschen Fragebogen von 1938 verweist Ittmann zurück auf seinen Aufsatz (1936a) und zeigt mit Anspielung und Zitat67, daß er Johanssen bereits gelesen hat.

Mit meinem 2. Kapitel, besonders der Einleitung (S. 9–13) hatte ich deutlich gemacht, wie sehr Ittmann sich in GVK an Johanssen 1931 orientiert: Er übernimmt die Gliederung und die theologische Auswertung fast vollständig. In seiner Darstellung der Kameruner Verhältnisse jedoch scheint er nicht durch Johanssen beeinflußt zu sein: Daß die Märchen und Sprichworte etwas andere sind, ist klar, aber gerade an seinen Ausführungen über Gottesvorstellungen (GVK 141–150), Geheimbünde (GVK 48–62) und Ahnenfeste (GVK 38–46) greift er nicht nur auf präzise erhobenes eigenes Material zurück, sondern zeigt, daß auch seine ethnologische Interpretation nicht von Johanssen abhängig ist.

Ittmann wagt einige charakteristische Änderungen gegenüber Johanssen: Ihm liegt die etwas akademische Diskussionsebene und Ausdrucksweise Johanssens nicht. Das „Licht des Evangeliums“ im Titel ersetzt er durch die handfestere Formulierung „Blickfeld des Missionars“ und deutet damit gleichzeitig an, daß es ihm mehr um die missionarische Praxis als um den gelehrten Diskurs geht. Er schreibt ein Lehrbuch, weniger eine Apologie (vgl. o. S. 10, Anm. 17). Ittmann ist Christianisierungsversuchen gegenüber aufgeschlossener (GVK 13, vgl. o. S. 15), er nimmt seine Kameruner in Schutz (GVK 32, 42, 78, 81). Und er sieht genauer hin, deutet dann von menschlichen Regungen her, z.B von Neid (GVK 4, vgl. o. S. 14f) und von moralisch richtiger Gesinnung her, wo Johanssen auf Versklavung unter ein Gesetz entsprechend dem pharisäischen schließt (GVK 13, s.o. S. 15).

Schließlich ändert Ittmann die vier Kapitelüberschriften, indem er die „Mysterien“ Johanssens durch den „Menschen“ ersetzt. Der Mensch, nicht Mysterien der Afrikaner sind es, worum es Ittmann geht. Es geht „vom Nahen zum Entfernten“ (GVK IV), also zuerst um das, was uns als Menschen und nicht nur unseren Intellekt unmittelbar angeht. Und es geht ihm nicht nur um den afrikanischen Menschen, er zählt sich selbst zu den Menschen vor Gott, in Solidarität mit den afrikanischen Heiden. Auf diese Solidarität in der Gotteserfahrung zielt der nächste Abschnitt.

3.7 Geber und Richter – Ittmann über die Gottesnamen

Als bekundete und betätigte „Solidarität der Heiden drinnen mit den Heiden draußen“ charakterisiert Karl Barth das missionarische Handeln der Kirche (1932, 102). Balz (1993a, 273) sieht darin auch das innere Anliegen von Ittmanns Untersuchungen zu Kameruner Gottesnamen68. Die sachlichen Ergebnisse habe ich in nuce schon im 2. Kapitel (oben Seite 31–33) dargelegt: Ittmann findet in seinem Forschungsgebiet zwei Gottesnamen, einen Himmelsgottesnamen (loba/diob) und einen Ahnen- und Fruchtbarkeitsgottesnamen (nyambe/obase), die aber beide nicht als zwei verschiedene Götter gelten, sondern monotheistisch zusammengedacht werden als verschiedene Wirkungsweisen. Der erste (loba) hat Richterfunktion, der zweite (nyambe) ist für Segen zuständig, „Geber“. Der erste, dessen Name gleich dem „Himmel“ ist, hat keinen Kult; er wird allenfalls in Stoßgebeten angeredet und in Sprichworten angeführt. Er ist ein ferner Gott, unberechenbar, ein „ganz anderer“, womit Ittmann (1940,142) wohl auf Karl Barth anspielt. Damit räumt er der dialektischen Theologie „beiläufig ihr relatives Recht“ ein, stellt sich ihr aber auch entschieden entgegen, indem er erklärt, daß diese „radikale Diskontinuität senkrecht von oben nicht nur in christlicher Verkündigung“ vorkomme, „sondern auch in afrikanischer Religion“ (Balz 1993a, 269). Balz fährt fort, daß sich Ittmann damit aus seiner eher weltflüchtigen pietistischen Herkunft gelöst habe, der es im wesentlichen um Seelenrettung vor der Verdammnis ging (270)69.

Dies zeigt sich daran, daß Ittmann (bes. im Aufsatz 1940, 3. Abschnitt) bedauert, daß die Gottesnamen so auseinanderfallen, man bei den Bakossi zwei einheimische Gottesnamen braucht, um die christliche Gotteserfahrung auszudrücken, den nahen Geber und den fernen Richter. Die Missionare mußten sich für einen entscheiden (loba, den Richter), damit konnten sie aber viele Aspekte des christlichen Gottesverständnis, vor allem Gottes Nähe zum Menschen in Jesus Christus nur mühsam ausdrücken70. Das Wissen der Missionare bleibe Stückwerk, der Name loba unzulänglich. Ittmann gibt hier (1940, 150) dem Himmelsgottesnamen vorsichtig den Vorzug. Wie sehr er selbst schwankte, welcher Gottesname nun verwendet werden solle, zeigt die nach 1956 entstandene Wiedergabe von J3,16 zwischen den Seiten 101 und 102 in GVK: Gott, der die Welt so sehr geliebt hat, daß er seinen Sohn dahingab, ist für die Bakossi Mwanyame, der Ahnengottesname. Auf der ca. 1941 entstanden Seite 102 steht dagegen der Himmelsgottheitsname loba/diob im Credo, wo es ebenfalls um Gott, den Vater geht.

Da auch Christen Gott unter beiden Aspekten, Geber und Richter erleben, sind sie mit den „heidnischen“ Kamerunern ein Stück weit solidarisch. Ittmann überwindet also hier mit seiner religions-ethnologischen Forschung und Interpretation die Engführungen auf Gutmanns urtümliche Bindungen wie auch die Engführungen des Barthschen Verbots der „Anknüpfung“. Mehr darüber unten in Kapitel 5.2 (S. 58ff).

Damit muß vor der abschließenden Würdigung Ittmanns nur noch etwas Licht gebracht werden in eine „Nachtseite“71, diesmal nicht der Kameruner Religion, sondern Ittmanns politschen Engagements, das von seinen Kameruner Entdeckungen mit Gutmannscher Brille (Romantik, Konservativismus, Volksordnungen) nicht unbeeinflußt war.


Fußnoten:

31 Hoekendijk (1967, 172) gibt einige Titel an. Merkwürdigerweise rechnet er Ittmanns Aufsatz 1936a zu denen, die Gutmanns Analyse als „antiquarische Ethnologie“ bezeichnen und infolgedessen Gutmanns Gemeindeaufbauprogramm ablehnen. Hoekendijk scheint Ittmann nur flüchtig zur Kenntnis genommen zu haben; Balz (1993a, 262) wiederum dürfte bei seiner Hoekendijk-Lektüre die Fußnote falsch zugeordnet haben.
32 Siehe als ein Beispiel für viele Pfisterer (1935) und Richter (1934, 17); auch Ittmann sieht sich in Konkurrenz zu den Katholiken (Jahresbericht 1936d, 6). Behandelt wird freilich auch nur die akademische Debatte, nicht die evangelikale, die der „Glaubensmissionen“ (zu diesen siehe Franz 1993 und Fiedler 1992).
33 Warneck in seiner Missionslehre bei Bosch (1991, 299f); s.a. Hoekendijk (1967, 103). Bosch (1991, 298ff) stellt auch die Leitgedanken der nicht-deutschen Missionen dar (etwa Henry Venns „Drei Selbst“: self-support, self-government, self-propagation (307)).
34 Die Weltmissionskonferenzen beschäftigten sich auch eher mit anderen Themen als dem Volkstum, nämlich den weltpolitischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: 1910 wurde zunächst internationale Kooperation propagiert; die Welt sollte in möglichst einer Generation mit dem Evangelium erreicht werden. In Jerusalem 1928 ging es vor allem um Fragen des sich ausbreitenden Säkularismus und der Bedrohung durch den „Bolschewismus“. Erst in der Konferenz von Tambaram 1938 ging es verstärkt um junge Kirchen, aber auch hier spielte die allgemeine Krisenstimmung der Zeit eine wichtigere Rolle. Die Diskussion dort zum missionarischen Umgang mit afrikanischer Religion beschränkte sich auf die Klassiker Polygamie, Hexerei, „Sektenbildung“ (= unabhängige Kirchen); vgl. den deutschen Berichtsband von Schlunk (1939, 169–182). Schon Hendrik Kraemers Vorbereitungsband zu Tambaram von weist auf die Prägung durch die dialektische Theologie (1938, siehe besonders das Register zu Barth und Gutmann!), die einer Auseinandersetzung mit traditionaler Religion aus dem Wege ging, worauf ich schon hingewiesen habe. Insgesamt war die Konferenz wohl zu spät, um noch viel Wirkung auf Ittmann zu entfalten (Traudel Schmidt teilte mir allerdings mit, daß Ittmann einen Vortrag über Tambaram gehalten habe. Nach diesem wäre zu suchen.) Knappe Charakterisierungen der Missionskonferenzen bei Hoekendijk (1967, 111f.123.129). Offizielle Konferenzbände siehe im Literaturverzeichnis unter Edinburgh 1910, Jerusalem 1928, Tambaram 1938.
35 Vgl. Hoekendijk (1967, 113–116).
36 Siegfried Knak, der von Hoekendijk nicht zu knapp angegriffen wurde, würdigt in einer Rezension 1950 Hoekendijk ausführlich über seiner gründlichen Arbeit und übernimmt weitgehend seine Ergebnisse und Kritik.
37 Mit „The Great Century“ sind die beiden Bände (5 und 6) über das 19. Jh. in der Missions- bzw. Ausbreitungsgeschichte des Christentums von K.S. Latourette (1937–45) überschrieben. Das 20. Jahrhundert war eher von der Krise der Mission geprägt, zunächst von eher äußeren Umständen (Weltkriege, Wirtschaftskrise, Kommunismus), dann auch inhaltlich (Kolonialismus-Debatte, Unabhängigkeit etc.).
38 Ethnische Einheiten können kaum gemeint sein, wenn es weitergeht: „baptivzonte aujtou“; (statt aujtav).
39 Siehe auch das Foto im Anhang meiner Arbeit. Dieses Foto läßt den heutigen Betrachter zunächst kopfschütteln, erzählt bei näherer Betrachtung aber doch wohl mehr von der Unsicherheit der Missionare gegenüber reicher afrikanischer Kultur und von eher erheiternder Harmlosigkeit dessen, wofür manchmal so große Worte wie Patriotismus oder gar Nationalismus stehen können (zur Rezeption solcher nationalen Eigenheiten unter den Afrikanern siehe oben S. 17, Anm. 35 über die Theaterdarbietungen der Tiv bei Laura Bohannan).
40 Differenzierte Darstellung des Gesprächs um Barths Berliner Vortrag, besonders mit Siegfried Knak, bei Balz (1989b, 419–426.432).
41 egalitäre, nicht stratifizierte Gesellschaft.
42 Ausdruck dieser gesellschaftlichen Differenzierung sind z.B. die Kultbünde, die ein soziologisches Muster darstellen für eine Gruppe, der nicht alle Glieder der Gesellschaft angehören; s.o. S. 19ff zu GVK 60f, wo Kameruner die Kirche mit einem Kultbund vergleichen.
43 In meiner Darstellung Gutmanns folge ich vornehmlich für die theoretischen Teile Hoekendijks Kapitel (1967, 139–178), für die praktischen Beispiele dem entsprechenden Kapitel bei Fiedler (1983). Bibliographie und Biographie in der Aufsatzsammlung Gutmann 1966 und in Jaeschkes Gutmann-Apologie 1981.
44 Gutmann verstand sich als Lutheraner, allerdings mit eigener Luther-Interpretation: Luther sei als Apostel des Individuums radikal mißverstanden; er stehe eigentlich für die organische Verbindung zwischen Volk (dem deutschen) und Evangelium (Yates 1994, 42). Hoekendijk: „Luther wird annektiert“ (1967, 165).
45 Um Predigtbeispiele geht es auch vorwiegend bei Ittmann 1935b über „Anknüpfungspunkte“.
46 Gutmann hat keine durchgängig festgelegte Terminologie, es kann auch mal „ewige Bindungen“ o.ä. heißen (1928).
47 Siehe oben Seite 3.
48 Hoekendijk (1967, 172) würdigt den „ökologischen“ Gewinn von Gutmanns Arbeit und zählt etliche Werke im Gefolge Gutmanns auf, darunter auch Ittmann 1936a.
49 Fiedler (1983) findet denn auch nicht allzuviel bleibende Wirkung Gutmanns in Afrika, da die gesellschaftliche Elite ihre eigenen Wege ging. Für die Lutherische Kirche in Nord-Tansania vergleiche jedoch Shao 1990.
50 Siehe dazu auch unten den Exkurs Kapitel 4, bes. S. 50f.
51 Zum Thema Kindschaft siehe auch Gutmann (1925, 41) über E 3,15, was sich sehr ähnlich bei Johanssen (1931, 91 = GVK 78f) wiederfindet. Kindschaft ist bei Gutmann ein Ausdruck wahrer Freiheit, denn wahre Freiheit sei ein gliedhaftes Eingebundensein; der Freigeborene sei im Suaheli mungwana, der Eingegliederte (1928, 10f). Die Problematik, daß Gutmann den Individualismus in AT und NT außer acht läßt und stattdessen überall urtümliche Bindungen findet, verdeutlicht Weist (1941, 52–77).
52 Gutmann zitiert bei Hoekendijk (1967, 157). Von Hoekendijk habe ich auch diese theologische Zusammenfassung weitgehend übernommen.
53 Der heutige Leser reibt sich die Augen, wenn Gutmann (1933b; anscheinend in Reaktion auf Kritiker) seitenlang allen Ernstes Jesus von Nazareth zu einem Propheten der urtümlichen Bindungen erklärt, einem Integrator der menschlichen Gesellschaft.
54 Es ist möglicherweise das Schicksal guter Gemeindeaufbau-Strategen, daß sie durch ihren Ekklesiozentrismus systematisch-theologisch, vor allem christologisch, eher enttäuschend sind. Vgl. für die Gegenwart z.B. Christian Schwarz (1993).
55 Biographische Daten und Auskünfte über sein Handeln habe ich hauptsächlich dem einschlägigen Kapitel bei Fiedler (1983) und dem Nachruf von Trittelvitz (1934) entnommen.
56 Der Tannenbergbund war Dachverband für völkische Wehr- und Jugendverbände, widmete sich später „deutscher Gotteserkenntnis“ und dem Kampf gegen Judentum, Marxismus, Freimaurertum etc.
57 Auch kulturell ist Johanssen progressiver als Gutmann; er fördert Handwerksausbildung (Fiedler 1983, 71), fordert Englisch-Unterricht zur Vergrößerung der Macht der Afrikaner, während Gutmann Englisch-Unterricht nur zuläßt, weil die Obrigkeit, also die englische Administration es verordnet hat (Fiedler 1983, 110). Ittmann fordert seinerseits ebenfalls Englisch-Unterricht auf Drängen der Einheimischen (Ittmann 1928a, 1931c). Zu Johanssens Sprachenpolitik siehe Verweise bei Hoekendijk (1967, 276f).
58 Barth gibt (1932, 123f) Johanssen gegenüber auch mehr seiner Ratlosigkeit Ausdruck, denn daß er Darstellung und Kritik liefert.
59 Damaliger Direktor der Basler Mission, also Ittmanns Vorgesetzter.
60 Kritische Anspielung auf Oswald Spenglers Bestseller „Untergang des Abendlandes“ (1918–22), worin er aufgrund seiner Zyklentheorie von Blüte, Reife und Verfall jeder Kultur („Organismus“) den Untergang des Abendlandes als verblühende Kultur mit einem aufkommenden „Cäsarismus“ prognostiziert (ein echter Prophet!) und mit seinen rassistischen und antidemokratischen Anschauungen zum Wegbereiter des NS wird. Vgl. GVK II, „kein Schwärmer für primitive Verhältnisse“.
61 Zu den Geheimbünden vergleiche oben, S. 19–21.
62 Ittmann weiß hier von Frauenstreiks zu berichten, ähnlich den Aktionen der Lysistrate.
63 Besonders hier zeigt sich Gutmannscher Konservativismus, der die Afrikaner nicht in ihrem Aufwärtsstreben wahrnimmt, sondern in primitiven Verhältnissen festhält. Ittmanns Schulberichte zeugen kaum von solcher Bevormundung, sondern viel eher von seinem Eingehen auf die von den Kamerunern geäußerten Bedürfnisse. Zur Ackerbaukultur als Ziel in der Basler Mission siehe Jenkins (1989, 13).
64 Zur Christianisierung der Tadelsversammlung kann er sich nicht durchringen (GVK 156); die Potenzen des „ndie“ (Ahnenfest) scheint er nicht zu bemerken (GVK 41–44; vgl. oben Seite 18f)
65 Ittmann an Hartenstein 6.3.1938 (BM). Der Fragebogen selbst war mir nicht zugänglich. Er dürfte im Zusammenhang mit einer umfassenderen Fragebogenaktion Wilhelm Kellers zur Vorbereitung auf die Weltmissions-Konferenz in Tambaram 1938 stehen, für die Hartenstein die Fragen formulierte (Hoekendijk 1967, 224.226; Schlunk 1939,9).
66 Zur Gemeindeordnung 1935 und ihrer Genese als Material für Ittmanns Denken siehe oben S. 6, Anm. 8. In § 119 klingen Töne Gutmannscher Ordinologie an, ansonsten ist sie eher konservativ gehalten.
67 Anspielung auf Titel mit „Licht des Evangeliums“; Zitat aus Johanssen 1931, 31.
68 Ittmann hat seine Ergebnisse an verschiedenen Stellen niedergelegt: In einem Manuskript 1931b über die Gottesvorstellungen der Bakossi (veröffentlicht in Balz 1995); in einem Aufsatz über die Bakwiri (1935c); in einem Vortrag 1939, der 1955 im Anthropos erschien und gekürzt schon 1940 im EMM. Dazu kommen die einschlägigen Abschnitte in GVK (141–150) und RVK sowie einzelne Hinweise in anderen Aufsätzen, z.B. 1936a über „urtümliche Bindungen“. Balz 1995 (535–787) interpretiert, ergänzt und korrigiert in seinem großen Kapitel „God Near and Far“ Ittmanns und eigene Entdeckungen und zieht die theologischen Konsequenzen daraus.
69 Balz’ Nachweise für die Basler Mission mögen zutreffen. Ob diese Einseitigkeit des Pietismus auch auf den Pietismus zutrifft, aus dem Ittmann stammt, müßte noch genauer festgestellt werden. Sein autobiographischer Text 1960b deutet nicht auf einen soteriologisch enggeführten Pietismus hin. Ittmann spricht mehr von Erweckung und geduldigem Wachstum im Glauben, was seiner späteren Haltung in der Mission durchaus entspricht. Hierzu wäre in frühen Schriftstücken Ittmanns (ab 1911) im Basler Archiv zu fahnden, ob und wie Ittmanns Pietismus sich gewandelt hat. Zur BM und ihrem Pietismus vgl. oben Anm 6 auf Seite 3
70 Barth hat später erklärt, wie er die von ihm einst so bekämpfte natürliche Theologie wieder integriert habe: via Christologie! (s.u. S. 60, Anm. 171).
71 In seinem „Brief aus Nyasoso“ (14.1.1935, BM) spricht Ittmann auf der letzten Seite von Tag- und Nachtseiten von Afrikanern und Europäern (vgl. u. S. 51, Anm. 129).
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